Kiew wie es lebt und kämpft – ein Reisebericht

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Georg Vancura, 28. September 2022

Ungewöhnliche politische Ereignisse im Osten – also Krieg gegen die Ukraine und westliche Hilfe an dieses für Unabhängigkeit kämpfende Land – haben mich motiviert, mir dieses Land, vor allem Kiew, persönlich anzuschauen. Die Reise über 2’000 km zu planen, war nicht einfach, weil der Luftraum geschlossen ist, also verbleiben nur Zug und Bus, vom Auto abgesehen. Bis Warschau lässt sich mit dem Zug bequem über Nacht und Tag fahren, weiter geht es über eine Nacht praktisch nur mit dem Bus vom Bahnhof Warschau-West. Unterwegs sieht man flache Landschaften mit Wäldern, Wiesen und Feldern, aber keine Tiere. Nach 38 Stunden kam ich am Morgen im sehr belebten Busbahnhof Kiew an und wurde von meinen Bekannten, bei denen ich wohnte, telefonisch und mit Taxi empfangen.

Die Stadt bot einen geschäftigen Eindruck: Belebte Strassen, sehr viel öffentlicher und privater Verkehr, viele Passanten und keine Touristen vor geöffneten Geschäften. Das gilt vor allem für den zentralen Chreschtschatuk Boulevard und den berühmten Majdan-Platz. Wenn man dann die Leute näher anschaut, sieht man kein Lachen und keine spontanen Ansammlungen, jeder geht direkt seinen Weg. In der Nacht gibt es von 23 bis 5 Uhr eine Ausgangssperre – alles ruht. An einem Vormittag habe ich einen Luftalarm mit Bewegungseinschränkungen erlebt, ohne dass es glücklicherweise zu Bombardements gekommen ist. Vor allen Verwaltungsgebäuden sind Sandsäcke 2 m hoch aufgestellt und daneben steht ein Bewacher mit Maschinenpistole, diese gibt es auch in U-Bahn-Stationen. Das Regierungsviertel ist voll abgeriegelt. Kulturell läuft nicht viel, weil alle Veranstaltungen – Theater, Oper, Sport – verboten sind. Die Universität Taras Schewtschenko ist geschlossen, der Unterricht findet online statt. Alle Denkmäler sind zum Schutz auch mit Sandsäcken geschützt.

Dagegen sind alle Museen und orthodoxen Kirchen offen und mit ihren vergoldeten Zwiebel-Türmen von weit her sichtbar, die Gottesdienste finden statt. Einige wurden in der Stalin-Zeit oder während des Krieges von den Nazis zerstört und danach wieder sorgfältig aufgebaut. Auf dem grossen Gelände des Petscherski-Klosters befinden sich u.a. die Höhlen-Kirche, zahlreiche Gebäude und die Maria-Himmelfahrts-Kathedrale, welche über der alten und restaurierten kleinen Kirche aus dem 11.Jh. gebaut wurde. Näher am Zentrum sind die Sophienkathedrale und das Michael-Kloster. Auf dem Platz davor neben den Denkmälern der Fürstin Olga und der Hungersnot unter Stalin sind zerstörte russische Panzer und andere Fahrzeuge aufgestellt. In der Nebenstrasse sind an der Wand Fotos der während des Krieges getöteten Soldaten. Noch mehr alte und neue Waffen sind im Museum des 2. Weltkriegs ausgestellt. Weiter im Park Richtung Fluss Dnepr steht die mit Sandsäcken umhüllte Statue des Fürsten Wladimir, welcher im Jahr 988 die Orthodoxe Kirche in der Kiewer Russ einführte.

Im Zentrum kann man sich zu Fuss gut bewegen, die neugebauten Vorstädte mit den Hochhäusern, auch Stadt-Schlafzimmer genannt, sind bequem und schnell mit der U-Bahn erreichbar. Besonders interessant war der Ausflug in das Freilichtmuseum der Volksarchitektur in Pirohowo, wo auf 150 ha 300 Häuser aus allen Regionen der Ukraine stehen. In der hölzernen Michaelskirche konnte ich einem Gottesdienst beiwohnen. Nach den ausgiebigen Spaziergängen ist es möglich, sich in den zahlreichen Restaurants zu günstigen Preisen zu verpflegen, allerdings schliessen alle um 21 Uhr wegen der nächtlichen Ausgangssperre. In der Stadt selbst sind nur wenige Soldaten sichtbar und vom Krieg merkt man sehr wenig. Dafür sind die TV-Sendungen voll davon, Zeitungen gibt es praktisch keine. Am Mittwoch nach Putins Ankündigung von der Teil-Mobilmachung von 300’000 Soldaten sicherte eine US-Regierungsbeamtin Andrea Kalan im TV in fliessendem Russisch der Ukraine weitere militärische und finanzielle Unterstützung der USA zu und verurteilte die Pseudo-Referenden in Donezk und Lugansk. Das hat die Situation beruhigt, auch nach den militärischen Erfolgen mit Rückeroberung von ca. 6’000 km2 im Donbass kam keine Euphorie auf, sondern die Gewissheit, dass der Krieg wohl noch lange dauern kann.

Alle Ukrainer, die ich traf, sind fest entschlossen, ihr Land gegen die russischen Okkupanten zu verteidigen, sind für bisherige Unterstützung des Westens dankbar und betonen gleichzeitig, dass noch mehr schwere Waffen notwendig sind. Nach fünf informationsreichen Tagen galt es wieder die Rückreise mit Bus nach Warschau und dann mit dem Zug über Berlin nach Aarau anzutreten. Auf der Strecke passierte der Bus mehrere militärische Checkpoints und an der ukrainisch-polnischen Grenze gab es zwei Personen- und Gepäck-Kontrollen mit einer Gesamtwartezeit von 4 Stunden, die Rückreise dauerte 45 Stunden und kostete 220.- Fr. Ich habe in Kiew viel gesehen, viele Eindrücke gewonnen und einige Leute getroffen – alle wollen sich für ihre Ukraine einsetzen.

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